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lyrik
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Die große Mathis-Orgel in St. Martin zu Olten (Schweiz)
Ein Instrument von überwältigender Klangschönheit...
CD-Empfehlung: Gerhard Weinberger
spielt Werke von Harald Genzmer
an der großen Mathis-Orgel von Olten
Preis der deutschen Schallplattenkritik 1999
[Foto: Günter Lade. Mit freundlicher Genehmigung]
Orgelspiel Orgelspiel. Andächtige Gläubige hören, Wie vielstimmig in verschlungenen Chören, Sehnsucht, Trauer, Engelsfreude tönend, Sich Musik aufbaut zu geistigen Räumen, Sich verloren wiegt in seligen Träumen, Firmamente baut aus tönenden Sternen, Deren goldene Kugeln sich umkreisen, Sich umwerben, nähern und entfernen, Immer weiter schwingend sonnwärts reisen, Bis es scheint, es sei die Welt durchlichtet, Ein Kristall, in dessen klaren Netzen Hundertfach nach reinlichsten Gesetzen Gottes lichter Geist sich selber dichtet. Dass aus Blättern voll von Notenzeichen Solche weitgeschwungenen, geistdurchsonnten, Solche Welt- und Sternenchöre werden konnten, Dass ein Orgelpfeifenchor sie in sich banne, Ist es nicht ein Wunder ohnegleichen? Dass ein Musikant am Manuale Sie mit Eines Menschen Kraft umspanne? Dass ein Volk von Hörern sie verstehe, Mit erschwinge, töne, mit erstrahle, Mit hinauf ins tönende Weltall wehe? Arbeit war's und Ernte langer Zeiten, Zehn Geschlechter mussten daran bauen, Hundert Meister fromm es zubereiten, Viele tausend Schüler sie begleiten. Und nun spielt der Organist, es lauschen Im Gewölb die Seelen hingegangener Frommer Meister, mit vom Bau umfangener, Den sie gründen halfen und errichten. Denn derselbe Geist, der in den Fugen Und Toccaten atmet, hat einst die besessen, Die des Münsters Maße ausgemessen, Heiligenfiguren aus den Steinen schlugen. Und noch vor den Bau- und Steinmetz-Zeiten Lebten, dachten, litten viele Fromme, Halfen Volk und Tempel zubereiten, Dass der Geist herab auf Erden komme. Wille von Jahrhunderten gestaltet In der klaren Töneströme Rauschen Sich, im Bau der Fugen und Sequenzen, Wo der schöpferische Geist der Grenzen Zwischen Tun und Leiden, zwischen Leib und Seele waltet. In den geistbeherrschten Takten dichten Tausend Menschenträume sich zu Ende, Träume, deren keiner je auf Erden Sich erfüllen darf, doch deren dringliche Einheit Stufe war, daraus das Menschenwesen Sich enthob aus Notdurft und Gemeinheit Nahe bis zum Göttlichen, bis zum Genesen. Auf dem Zauberpfad der Notenzeichen, Dem Geäst der Schlüssel, Signaturen, Auf dem Tastwerk, das die Füß' und Hände Eines Organisten bändigen, entweichen Gottwärts, geistwärts alle höchsten Strebungen, Strahlen, was an Leid sie je erfuhren, Aus im Ton. In wohlgezählten Bebungen Löst der Drang sich, steigt die Himmelsleiter, Menschheit bricht die Not, wird Geist, wird heiter. Denn zur Sonne zielen alle Erden, Und des Dunkels Traum ist: Licht zu werden. Spielend sitzt der Organist, die Hörer Folgen willig, in befreiter Rührung, Der Gesetze englisch sichrer Führung, Schwingen glühend, heilige Verschwörer, Mit empor, zum Tempel sich erbauend, Mit dem Blick der Ehrfurcht Gott erschauend, Am Dreieinigen kinderhaft beteiligt. So befreit im Klang, so eint und heiligt Sich im Sakramente die Gemeinde, Die entkörperte, dem Gott vereinte. Das Vollkommene aber ist hienieden Ohne Dauer, Krieg wohnt jedem Frieden Heimlich inne, und Verfall dem Schönen. Orgel tönt, Gewölbe hallt, es treten Neue Gäste ein, verlockt vom Tönen, Eine Frist zu rasten und zu beten. Doch indes die alten Klanggebäude Weiter aus dem Pfeifenwalde streben, Voll von Frömmigkeit, von Geist, von Freude, Hat sich draußen dies und das begeben, Was die Welt verändert und die Seelen. Andre Menschen sind es, die jetzt kommen, Eine andre Jugend wächst, ihr sind die frommen Und verschlungenen Stimmen dieser Weisen Nur noch halb vertraut, ihr klingt veraltet Und verschnörkelt, was noch eben heilig War und schön, in ihrer Seele waltet Neuer Trieb, sie mag sich nicht mehr quälen Mit den strengen Regeln dieser greisen Musikanten, ihr Geschlecht ist eilig, Krieg ist in der Welt, und Hunger wütet. Kurz verweilen diese neuen Gäste Hier beim Orgelklang, zu wohlbehütet Finden sie, zu priesterlich-gemessen Die Musik, so schön und tief sie sei, sie wollen Andre Klänge, feiern andre Feste, Fühlen auch in halb verschämter Ahnung Dieser reich gebauten, hoheitsvollen Orgelchöre unwillkommene Mahnung, Die so viel verlangt. Kurz ist das Leben Und es ist nicht Zeit, sich hinzugeben So geduldig komplizierten Spielen. Übrig bleibt im Dome von den vielen, Die hier zugehört und mitgelebt, fast keiner. Immer wieder einer geht von hinnen, Geht gebückt, ward älter, müde, kleiner, Spricht vom jungen Volk wie von Verrätern, Schweigt enttäuscht und legt sich zu den Vätern. Und die Jungen, die den Dom betreten, Fühlen Heiliges zwar, doch weder Beten Noch Toccatenhören ist mehr Sitte, Und der Tempel bleibt, der Kern und Mitte Einst der Stadt gewesen, fast verlassen, Ragt urweltlich aus geschäftigen Gassen. Aber immer noch durch seines Baues Rippen Atmet die Musik in himmlischem Flüstern. Träumend und ein Lächeln auf den Lippen Über immer zarteren Registern Sitzt der greise Musikant, versponnen In das Rankenwerk der Stimmengänge, In des Fugenbaus gestufte Pfade. Immer zarteres Filigrangestänge Flicht sein Spiel, mit immer dünnerem Faden Kreuzen sich die kühnen Ornamente Im phantastisch luftigen Tongewebe, Immer inniger und süßer werben Um einander die bewegten Stimmen, Scheinen Himmelsleitern zu erklimmen, Halten oben sich in seliger Schwebe, Um wie Abendrosenwolken hinzusterben. Nicht bekümmert ihn, dass die Gemeinde, Schüler, Meister, Gläubige und Freunde Sich verloren haben, dass die eiligen Jungen Die Gesetze nicht mehr kennen, der Figuren Bau und Sinn kaum noch erfühlen mögen, Dass die Töne nicht Erinnerungen Mehr des Paradieses ihnen sind und Gottesspuren, Dass nicht zehn, nicht einer mehr imstande, Dieser Tongewölbe heilige Bögen Nachzubaun im Geist und diesem Weben Alterworbener Mysterien Sinn zu geben. Und so fiebert rings in Stadt und Lande Junges Leben seine stürmischen Bahnen, Doch im Tempel, einsam im Gestühle, Waltet fort der geisterhafte Alte, (Sage halb, halb Spottfigur der Jungen), Spinnt geheiligte Erinnerungen, Füllt mit göttlichem Sinn die Ornamente, Rückt Register immer leiseren Klanges, Stuft den Fugenschritt zum Sakramente, Das nur seine Ohren noch erlauschen, Während andre nichts mehr als das Flüstern Der Vergangenheit spüren und das leise Rauschen Brüchiger Vorhangfalten, die im düstern Steingeklüft der Pfeiler müd sich bauschen. Niemand weiß, ob noch der alte Meister Drinnen spiele, ob die zarten, leisen Tongeflechte, die im Raume kreisen, Nur noch Spuk sind überbliebener Geister, Nachhall und Gespenst aus anderen Zeiten. Manchmal aber bleibt ein Mensch beim Dome Lauschend stehen, öffnet sacht die Pforte, Horcht entrückt dem fernen Silberstrome Der Musik, vernimmt aus Geistermunde Heiter-ernster Väterweisheit Worte, Geht davon mit klangberührtem Herzen, Sucht den Freund auf, gibt ihm flüsternd Kunde Vom Erlebnis der entrückten Stunde Dort im Dom beim Duft erloschener Kerzen. Und so fließt im unterirdisch Dunkeln Ewig fort der heilige Strom, es funkeln Aus der Tiefe manchmal seine Töne; Wer sie hört, spürt ein Geheimnis walten, Sieht es fliehen, wünscht es festzuhalten, Brennt vor Heimweh. Denn er ahnt das Schöne. [Hermann Hesse] |